In Deutschland sind aktuell über 5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Tendenz steigend. Das bedeutet auch, dass Gutachter des Medizinischen Dienstes (MD) immer mehr Pflegesituationen beurteilen, Pflegekassen mehr Anträge auf einen Pflegegrad bearbeiten müssen. Da passieren immer wieder Fehler in der Beurteilung. Doch Sie müssen einen Ihrer Meinung nach falsch festgestellten Pflegegrad nicht akzeptieren. Stattdessen können Sie Widerspruch einlegen und eine nicht nachvollziehbare Einstufung prüfen lassen. Für rund 30 Prozent der Betroffenen hat sich ein solcher Widerspruch in den vergangenen Jahren gelohnt: Ursprünglich festgestellte Pflegegrade wurden korrigiert und Leistungen angepasst.
Warum ist die Einstufung in den korrekten Pflegegrad wichtig?
Die Stufe des Pflegegrads entscheidet über die Ansprüche einer pflegebedürftigen Person gegenüber der Pflegekasse. Von ihr hängen Höhe und Umfang von Pflegesachleistungen und Pflegegeldzahlungen ab. Der Pflegegrad bestimmt also auch darüber, wie viel Unterstützung Sie als pflegende Angehörige erhalten. Besonders bei langjährigen Pflegetätigkeiten benötigen Angehörige regelmäßige Entlastung, um die eigene körperliche und psychische Gesundheit nicht zu gefährden.
Wie oft haben Sie bereits eigene Bedürfnisse ignoriert und Freizeitaktivitäten wie Sport, Chor oder ein Treffen mit Freundinnen abgesagt, weil sie zu erschöpft waren oder die Betreuung Ihres pflegebedürftigen Angehörigen nicht gesichert war? Ein den Pflegeumständen angemessener Pflegegrad hilft Ihnen, solche negativen Kreisläufe zu durchbrechen, Ihre Angehörigen dauerhaft gut zu versorgen und selbst gesund zu bleiben.
Wann empfiehlt sich ein Widerspruch gegen einen festgestellten Pflegegrad?
Wenn Sie als Betroffene begründete Zweifel an der Pflegegradeinstufung haben, raten Sozialverbände zu einem Widerspruch gegen den festgestellten Pflegegrad. Ist im überlieferten Gutachten eine regelmäßige Hilfestellung nicht berücksichtigt oder hat sich der Gesundheitszustand Ihres Angehörigen durch einen Sturz oder durch Schwäche seit der Begutachtung verschlechtert? Dann sollten Sie unbedingt eine Prüfung des Pflegegrades anmelden.
Einen Widerspruch können Sie ebenfalls erwägen, wenn in der Bewertung der Pflegekasse nur wenige Punkte auf die nächsthöhere Stufe fehlen und Sie durch die Pflegedokumentation eines Pflegedienstes oder eigene Notizen pflegerische oder hauswirtschaftliche Hilfe nachweisen können, die für einen höheren Pflegegrad sprechen.
Manchmal zeigen sich pflegebedürftige Personen bei einer Begutachtung auch in einem besonders guten Licht und verbergen oder verschleiern ihre tatsächliche Hilfsbedürftigkeit aus Scham. In solchen Fällen fällt das Ergebnis des MD häufig zuungunsten der Betroffenen aus, es kann sogar zu einer Rückstufung oder zum Verlust eines vorhandenen Pflegegrads führen. Hier sollten Sie ebenfalls durch Widerspruch auf eine Korrektur hinwirken, um eine gute Versorgung Ihrer Angehörigen zu sichern.
Worauf sollten Sie beim Widerspruch achten?
1. Frist und Widerspruchsberechtigte
Handeln Sie schnell und lassen Sie keine unnötige Zeit verstreichen. Für Widersprüche gegen einen festgestellten Pflegegrad gilt eine Frist von einem Monat. Widerspruch einlegen dürfen die pflegebedürftige Person selbst oder eine bevollmächtigte Person, z. B. ein Angehöriger mit Vollmacht oder eine gesetzliche Betreuerin.
2. Sichere Zustellung
Versenden Sie den Widerspruch an die Pflegekasse zu Ihrer eigenen Absicherung per Einschreiben oder per Fax (Faxbestätigung aufbewahren). Möchten Sie den Widerspruch persönlich bei Ihrer Pflegekasse abgeben, ist das möglich. Lassen Sie sich in diesem Fall jedoch ebenfalls den Empfang quittieren.
3. Form
Der Widerspruch kann formlos erfolgen, muss aber schriftlich und unbedingt begründet sein. Wenn die Zeit drängt, ist es möglich, zur Wahrung der Frist zunächst nur einige kurze Widerspruchszeilen einzureichen, mit dem Hinweis, dass Sie eine Begründung nachliefern werden (siehe Download „Widerspruch Musterbrief“).
4. Begründung
Wenden Sie für die Begründung ausreichend Zeit auf, damit Ihr Widerspruch Aussichten auf Erfolg hat. Wichtig sind eine klare Struktur Ihres Schreibens und konkrete Informationen. Notieren Sie z. B. den genauen Tagesablauf und Hilfestellungen, die die pflegebedürftige Person regelmäßig benötigt. Sammeln Sie Belege und fügen Sie diese bei. Denken Sie an den aktuellen Medikamentenplan sowie Diagnosen und Befunde von Ärzten, Krankenhäusern, dem ambulanten Pflegedienst (jeweils Kopien) sowie an Hilfsmittel und Pflegehilfsmittel, die zum Einsatz kommen. Vielleicht existiert auch ein Pflegetagebuch, das Einschränkungen in der Selbstständigkeit Ihres Angehörigen aufzeigt.
Folgende Bereiche sind ausschlaggebend für eine umfassende Bewertung:
- Mobilität, z. B. Aufstehen, Gehen, Stehen, Greifen, Gehhilfen wie Gehstock oder Rollator
- Körperpflege, z. B. Waschen, Baden, Haar-, Haut-, Nagel- und Zahnpflege, Toilettengang, Inkontinenz
- Kognitive und kommunikative Fähigkeiten, z. B. Sehschwäche, Schwerhörigkeit, Vergesslichkeit, Desorientierung, Sprechstörungen
- Nahrungsaufnahme und Flüssigkeitszufuhr
- Verhaltensweisen und psychische Belastungen, z. B. Unruhe, Weglaufen, Angst, Depression, Wut, Trauer
- Umgang mit Krankheiten bzw. medizinischen Notwendigkeiten, z. B. regelmäßige Medikamenteneinnahme, Therapien, Wundversorgung, Kompressionsstrümpfe
- Haushaltsführung, z. B. Einkäufe, Kochen, Putzen, Wäsche, Abwasch
- Freizeitaktivitäten und soziale Kontakte, z. B. gibt es Hobbys, Freunde, Ausflüge oder ist die pflegebedürftige Person isoliert und einsam?
Ambulante Pflegedienste, Selbsthilfegruppen für pflegende Angehörige und Pflegestützpunkte verfügen über wertvolle Erfahrungen und können Ihnen bei der Formulierung Ihres Widerspruchs helfen.

Musterbrief Widerspruch
Wenn Sie Einspruch gegen den festgestellten Pflegegrad einlegen wollen, hilft Ihnen unser Musterbrief.
Wie geht es nach dem Einspruch weiter?
Nach einem Widerspruch hat die Pflegekasse maximal 3 Monate Zeit, um die Angaben zu prüfen und die Pflegesituation neu zu bewerten. Verzichten Sie innerhalb dieses Zeitfensters möglichst auf Statusrückfragen bei der Pflegekasse, um die Arbeitsprozesse dort nicht unnötig zu stören. Sobald die Bearbeitung abgeschlossen ist, erhalten betroffene Pflegebedürftige einen neuen Bescheid.
Fall 1: Ihr Widerspruch wird akzeptiert
War die Begründung schlüssig oder ein Fehler in der ursprünglichen Einstufung ersichtlich, kann die Pflegekasse eine direkte Korrektur des Pflegegrades aufgrund der Aktenlage vornehmen. Leistungen werden dann entsprechend zum dokumentierten Stichtag (nach)berechnet.
Fall 2: Die Pflegekasse ordnet ein Zweitgutachten an
Sind Situationen komplex, setzt die Pflegekasse meist auf eine zweite Begutachtung. In der Regel prüft ein Gutachter oder eine Gutachterin die Pflegebedürftigkeit in Form eines angekündigten Hausbesuchs. Je nach Situation können Begutachtungen auch per Telefon oder Video vereinbart werden.
Wichtig ist, dass Sie sich auf den Termin der Begutachtung gut vorbereiten und alle wichtigen Dokumente wie Medikamentenplan, ärztliche Verordnungen, Hilfsmittel, Pflegetagebuch und, falls vorhanden, die Dokumentationsmappe eines ambulanten Pflegedienstes zur Hand haben. Neben der pflegebedürftigen Person sollte auch eine weitere Vertrauensperson und/oder die hauptsächlich pflegende Person anwesend sein, um den Pflegealltag schildern zu können. Ein weiterer wichtiger Tipp: Räumen Sie auf keinen Fall extra für den Gutachter bzw. die Gutachterin des MD auf. Der Termin soll ein möglichst authentisches Bild der Gesamtsituation im häuslichen Umfeld liefern.
Fall 3: Der Widerspruch wird abgelehnt
Die Prüfung des Widerspruchs kann auch eine Ablehnung zur Folge haben. Sie haben nun die Möglichkeit, den Bescheid für die aktuelle Situation zu akzeptieren und bei einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes Ihres Angehörigen einen neuen Antrag auf Erhöhung des Pflegegrads zu stellen.
Ist der negative Bescheid in Ihren Augen jedoch nicht akzeptabel, können Sie beim Sozialgericht gegen die Entscheidung der Pflegekasse klagen. Auch hierfür gilt eine Frist von einem Monat nach Zugang des Widerspruchsbescheides. Für den juristischen Weg ist es sinnvoll, Experten einzuschalten, etwa einen Sozialverband wie den VdK oder einen spezialisierten Rechtsanwalt.