Herr Dr. Rudolph, warum engagieren Sie sich als Facharzt für Psychosomatik seit Jahrzehnten im Bereich Tinnitus und Schwerhörigkeit?
Nun, ich sehe die Folgen, die ein Hörverlust, der sich häufig über Jahre unbemerkt entwickelt, auf unser Leben haben kann. Wir Menschen sind soziale Wesen und wollen dazu gehören. Es ist zu beobachten, dass Menschen, die schlecht hören, häufig auch für dumm gehalten werden. Denn was passiert, wenn ich häufiger sagen muss: „Ich verstehe Sie nicht.“? Das wird nicht nur als Aussage gesehen, dass jemand akustisch nicht folgen kann, sondern auch, dass er intellektuell nicht in der Lage ist, das Gesagte zu verstehen. Das führt zu Isolation.
Schwerhörigkeit hat weitreichende Folgen
Das bedeutet, dass eine Schwerhörigkeit nicht unbedingt nur ein körperliches Thema ist?
Zunächst einmal schon. Aber die Folgen, die sie mit sich bringt, wenn sie unbehandelt bleibt, können auch seelische Auswirkungen haben. Wenn ich Probleme habe einem Gespräch zu folgen, Konzertbesuche keine Freude bereiten oder ich beim Einkaufen von Nebengeräuschen gestresst bin, gehe ich in immer weniger soziale Aktionen. Die Isolation kann zu Depressionen und letztlich auch zu einer Demenz führen. Und es gibt noch einen weiteren Aspekt, der beachtet werden sollte: Man hat festgestellt, dass sich bei Menschen mit geminderter Hörfähigkeit die Sturzneigung erhöht.
Wie ist das zu erklären?
Das Gehirn ist wie ein Muskel, der trainiert werden muss. Hörnerv und Gleichgewichtsorgan liegen eng beieinander. Bei Schwerhörigkeit muss das Gehirn mehr leisten, um den Hörverlust auszugleichen. Somit bleibt weniger Energie, um den Gleichgewichtssinn zu versorgen.

Dr. Frank Matthias Rudolph (57) ist Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie mit eigener Praxis in Boppard am Rhein. Zuvor war er 19 Jahre lang als Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Psychosomatischen Abteilung in einer Klinik für Rehabilitation tätig. Ehrenamtlich engagiert er sich unter anderem seit 1998 in der Deutschen Tinnitus Liga e.V., bei der er derzeit das Amt des stellvertretenden Sprechers des Wissenschaftlichen Beirats innehat.
Kontakt: www.verhaltenstherapie-boppard.de
Wie sich Schwerhörigkeit erkennen lässt
Wann muss ich aufmerksam werden und in Betracht ziehen, dass sich bei mir eine Schwerhörigkeit eingestellt hat?
Das kann sich im Außen zeigen, wenn ich beispielsweise vermehrt darauf hingewiesen werde, dass ich die Lautstärke am Fernseher sehr hoch eingestellt habe, ich die Türklingel manchmal überhöre oder in größeren Runden ein Problem habe, dem Gespräch zu folgen.
Allerdings können auch innere Faktoren auf ein Problem mit meinem Gehör hinweisen. Wenn ich über einen längeren Zeitraum verstimmt bin oder Schlaf-, Gedächtnis- und Konzentrationsprobleme bei mir feststelle, können dies Begleiterscheinungen einer Schwerhörigkeit sein.
Was raten Sie Menschen, wenn sie den Verdacht haben, dass ein Angehöriger schwer hört, dieser das jedoch für sich ausschließt?
Am ehesten erreichen sie den anderen mit „Ich-Botschaften“. Anstatt zu sagen: „Du hörst auf einem Ohr schlecht.“, könnten sie sagen: „Mir ist aufgefallen, dass Du mich meist nicht verstehst, wenn ich dich von der linken Seite her anspreche.“

Checkliste: "Schwerhörig?"
7 Kriterien, mit denen Sie selbst testen können, ob Sie eventuell an Schwerhörigkeit leiden.
Was können Betroffene tun, wenn sie sich mit den von Ihnen genannten Dingen konfrontiert sehen?
Sie sollten unbedingt ihr Gehör beim Hals-Nasen-Ohren (HNO)-Arzt oder Hörakustiker testen lassen.
„Hörgeräte waren lange ein Stigma“
Schwingt dabei nicht aber auch die Sorge mit, dass ein Hörtest an den Tag bringt, dass ich ein Hörgerät benötige?
Hörgeräte waren lange Zeit ein Stigma. Es fängt erst langsam an, sich zu wandeln. Die Geräte von heute sind kleine, teils sehr stylishe volldigitale Hilfsmittel, die mit anderen Geräten vernetzt sind. Wir sprechen daher auch von Hörsystemen.
Für wen sind Hörgeräte geeignet und welche genau? Worauf sollten Sie bei Auswahl achten? Welche Kosten übernimmt die Krankenkasse? Und wie bereiten Sie sich und Ihren Angehörigen auf den Termin beim Hörgeräteakustiker vor?
Antworten auf diese Fragen und viele mehr gibt unser kleiner Ratgeber „Hörgeräte: Die Welt mit besseren Ohren hören „.
Das richtige Einstellen braucht etwas Zeit
Das klingt kompliziert.
Wer technikaffin ist, hat vermutlich Spaß daran, die Hörsysteme per Handy-App einzustellen, sie mit einem MP3-Player oder Funkmikrofon zu vernetzen und auch über das Hörsystem zu telefonieren. Letztlich muss sich aber niemand damit beschäftigen. Die Systeme werden vom Hörgeräteakustiker eingestellt und verfügen beispielsweise über eine Umwelterkennung, die die Umgebungsgeräusche filtert. Das Anpassen des Hilfsmittels bedeutet allerdings einigen Aufwand.
Was kommt auf den Betroffenen zu?
Es kann bis zu sechs Monate dauern, bis das Hörsystem passend eingestellt ist. So ist es beispielsweise sehr individuell, was ich als Störfrequenzen empfinde und somit gefiltert werden sollte, und was ich an Geräuschen empfangen möchte. Das Gerät einzustellen, übernimmt der Hörgeräteakustiker oder die Hörgeräteakustikerin. Audiologen, die ich als Physiotherapeuten für die Ohren bezeichnen würde, helfen dabei, das Hören dann neu zu lernen.
Der Welttag des Hörens am 3. März wurde 2007 auf Initiative der WHO ins Leben gerufen und findet seitdem jährlich statt. Ziel ist es, mit verschiedenen Veranstaltungen und Aktionen die Aufmerksamkeit auf die Prävention und Versorgung von Hörminderungen und auf die Bedeutung des Gehörs zu lenken. In diesem Jahr steht der Tag unter dem Motto „Das Leben gehört gehört!“
Weitere Informationen: www.welttag-des-hoerens.de
Regelmäßige Hörtests ab 60 Jahren
Und wie geht es nach der Eingewöhnung weiter?
Das Hörsystem sollte routinemäßig einmal im Jahr überprüft werden. Zum Hörtest rate ich übrigens nicht nur Menschen, die den Verdacht haben, schwerhörig zu sein, sondern einmal jährlich allen Menschen ab 60 Jahren. Kennen Sie übrigens den kleinsten und einfachsten Hörtest der Welt?
Nein. Verraten Sie ihn?
Nehmen Sie das Zuckertütchen im Restaurant, das zu der Tasse Kaffee oder Tee serviert wird. Wenn sie es schütteln und das Geräusch gut hören ist grob gesagt noch alles in Ordnung.
Betroffene und deren An- und Zugehörige finden Beratung und Unterstützung bei:
- Deutscher Schwerhörigen Bund e.V. als bundesweiter Selbsthilfeverband schwerhöriger und ertaubter Menschen
- Deutsche Tinnitus-Liga e.V. als gemeinnützige Selbsthilfeorganisation gegen Tinnitus, Hörsturz und Morbus Menière